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Rede von Dr.Busso Diekamp (Kunsthistoriker) anlässlich
der Kunstausstellung mit Arbeiten von Stefan-Felix Göttle
in der Galerie der Sparkasse Worms - Oktober 2002
"Verehrte Damen, meine Herren,
nach der Performance des zum klingenden
Mühlrad umfunktionierten Motorrad-Vorderrades
ist uns allen klar: Mit seinen Werken will Stefan-Felix Göttle
die menschlichen Sinne umfassend anregen.
Zunächst ist es die überbordende Farben- Form- und
Materialvielfalt der Gemälde und Objekte, die beim Betreten
der Ausstellung ins Auge sticht. Dann nähern wir uns
den Bildern: Großzügig ist überall die Farbe
pastos auf die Leinwand aufgetragen und aufgespachtelt oder
es sind Spuren unserer Alltagwelt, die collageartig auf den
Bildträger aufgebracht sind. Das Relief der Bildoberfläche
regt dazu an, mit den Händen darüberzufahren - und
so wundert es uns auch nicht, dass der Künstler direkt
dazu einlädt, den musealen Abstand zwischen Kunstwerk
und Betrachter zu überwinden: Während in Museen
Berührungen von Gemälden in der Regel Alarm und
eine strenge Ermahnung des Wachpersonals zur Folge haben,
werden die Besucher am Kunstrasenberg am Eingang zu Ausstellung
- frei nach Karl Valentin - aufgefordert: "Vorsichtiges
Berühren dieser beiden Arbeiten ist strengstens erwünscht".
Diese Animation von Auge, Ohr und Hand wird heute Abend geschmacklich
abgerundet durch das kleine Wormser Gedeck der Sparkasse,
das wir schon sehnlich warten. Aber bleiben wir noch einige
Minuten bei den Kunstwerken.
Irritiert nehmen wir die dargebotene Formen- und Themenvielfalt
der Werke wahr. Für Stephan-Felix Göttle ist Kunst
im ursprünglichen Sinne ein Spiel mit Formen, Farben
und Gebrauchsspuren unserer Alltags- und Konsumwelt. Er bezeichnet
sich auf seiner Homepage www.goettle-kunst.de selbst als Multidilettant,
was nichts mit dem Pejorativum dilettantisch zu tun hat, sondern
- im ursprünglichen Wortsinn - vom ital. ,dilettare'
abgeleitet ist: "erfreuen, ergötzen, unterhalten,
aus Liebhaberei beschäftigen" bedeutet. Die Kunst
des Dilettanten entsteht aus der Leidenschaft, sich im Leben
auf vielfältige Weise zu entfalten.
Mit der in der Ausstellung gezeigten Vielfalt entzieht sich
Göttle bewusst einer stilistisch eindeutigen Kategorisierung,
... . Göttle ist nicht nur Objektkünstler, wie Marcel
Duchamp, die Surrealisten oder Jean Tingueley aufgesammelte,
triviale Produkte aus unserer Alltagswelt - objets trouvés
- zu Ready-mades, Collagen und zweckfreien Phantasiemaschinen
komponiert, sondern er malt und zeichnet zur selben Zeit ganz
traditionell Akte oder spachtelt flimmernde Landschaften direkt
auf die weiße Leinwand - Landschaften, die an die Postimpressionisten
erinnern.
Ein bestimmtes Label lässt sich Stefan-Felix Göttle
nicht anhängen.
In mehreren, kaum getrockneten Werken der jüngsten Schaffensperiode
begegnen uns spiegelblanke oder übermalte, perfekt erhaltene
oder zerbrochene CDs - objets trouvés aus unserer
modernen Computerwelt. Massenhaft hat Göttle die silber-,
gold-, bläulich oder grünlich schimmernden kleinen
runden Scheiben, die uns tagtäglich im Berufsalltag oder
als Werbepräsent begegnen, gesammelt, um sie für
seine Materialcollagen zu verwenden.In Korrespondenz mit der
Malerei bildet die CD das Leitmotiv der Ausstellung: Als perfekter
glatter Gegenstand ist die CD Symbol unserer unsinnlichen
vernetzten Computerwelt. Gleichzeitig symbolisiert die CD
aber auch die Entmaterialisierung der geistigen und mechanischen
Arbeitsprozesse: Denn während beim Handwerker oder an
der Maschine des Industriezeitalters noch der Arbeitsprozess
sichtbar ist, sich in Büchern die Buchstaben als sichtbare
Daten zu Wort- und Satzbedeutungen zusammensetzen, verbirgt
die CD die auf ihr gespeicherten digitalisierten Daten. Gegen
die glatte perfekte Oberfläche der CD steht die Farbe
auf der Leinwand, die durch ihren pastosen Auftrag nicht nur
visuell, sondern auch haptisch erfahrbar wird und den handwerklich
künstlerischen Prozess zu erkennen gibt.
Das hochformatige überlebensgroße Bild
"Achilles 2002" steht für den vernetzten,
gläsernen Menschen: Die CDs sind durch rote Farbe mit
dem Untergrund verbunden - rote Farbe, die für Blut,
Leben, aber auch Verletzlichkeit steht. Wie ein Panzer umschließen
die CDs die Figur; nur die Stelle, die spiegelbildlich das
Herz symbolisiert, ist freigelassen. Mit der Flex hat der
Künstler Spuren in den Panzer geschnitten, den gläsernen
Menschen freigelegt und verletzt. Achilles ist das Pendant
zu unserem Siegfried - wie die Ilias das Pendant zum Nibelungenlied
ist: Achilles und Siegfried sind perfekte, fast allmächtige
Menschen - verwundbar nur an einer Stelle. Bei Achilles war
es bekanntlich die Ferse, an der ihn die Mutter Thetis festhielt,
als sie ihn nach der Geburt in einen Kessel sie den den Wassers,
einer anderen Überlieferung nach in das Wasser des Styx
tauchte, woraufhin Achilles bis auf diese Stelle unverwundbar
wurde; das wurde ihm vor Troja zum Verhängnis, als ihn
die todbringenden Pfeile des Paris und Apollon in die Ferse
trafen.
Aus eine CD-Schichttorte
ist ein Tortenstück ausgeschnitten. Daten fließen
aus dem Datenkuchen.
In der Materialcollage "Digital
food for everyone" ist die Beziehung Mensch.
- Computer allegorisch auf die Spitze getrieben: Vom Schnuller
bis zum künstlichen Gebiss - von der Wiege bis zum Grab
- werden wir mit Daten gefüttert, aber auch als Daten
verfüttert. Der CD-Teller ersetzt natürliche durch
künstliche Kost!
In zwei Collagen, die sich in goldenem Stuckrahmen wie klassische
Gemälde präsentieren, werden die CDs dagegen als
künstlerisch verwertbare Materialien ganz auf ihren sinnlichen,
ästhetischen Wert reduziert: Mit dem Relief des tiefgrünen
Kunstrasens und dem als unverdünntes, reines Pigment
aufgetragenen Ultramarin bilden in der Collage "Arkadien
2002" vollständige und zerbrochene Scheiben
eine magisch in die Tiefe ziehende, surreale Landschaft.
Wie pastos aufgetragene Farbe hat auch offenbar unterschiedlich
gekörntes und gefärbtes, gebrauchtes oder ungebrauchtes
Schleifpapier einen visuellen und haptischen Reiz: Im barocken
Rahmen ordnen sich auf der Collage "Waldstrukturen
mit CD-Blättern" zerbrochene CDs und Streifen
von Schleifpapier in einer Farbabstufung von gelb über
ocker bis rot sowie Kunststoffgranulat und Sand zu einer Baumlandschaft
- analog zu den gemalten, genauer: gespachtelten Baumlandschaften.
Die Acrylfarbe dient quasi als Klebstoff, durch den die Gegenstände
mit dem Bildträger verbunden sind. ...
Kommen wir zu den in Acryl gemalten Landschaften: Es sind
keine konkreten Ansichten, die vor der Natur oder nach Naturskizzen
im Atelier entstanden sind. Es sind farblich überbordende
Seelen- oder Gefühlslandschaften, worauf auch die Titel
verweisen - z.B. "Auf Bäumen" oder "Winterlich
treibend".
Für die Assoziation Baum scheint Göttle
eine besondere Vorliebe bei seinen Landschaftsbildern zu haben.
Das schlichte Baummotiv hat eine lange Tradition in der deutschen
Malerei, denken wir nur an Caspar David Friedrich. Bei Christian
Rohlfs löst sich in dessen Wald-Bildern, die zu Beginn
des 20. Jahrhunderts entstanden, die geschlossene Form in
lebhaften Pinselstrichen auf, in denen die reine, ungemischte
Farbe - wie bei den französischen Postimpressionisten
- nebeneinander aufgetragen wird. Eine ähnliche, flimmernde
Farbfläche erzeugt Göttle in seinen Baumbildern.
Pastos verspachtelt verwandeln die farbigen Tupfer und Streifen
die Oberfläche des Gemäldes in ein Feld dynamischer
Spannungen. Göttle, der im waldreichen Schwabenland aufwuchs,
hat - wie er selbst sagt - eine natürliche Beziehung
zum Wald. Eine im Nationalcharakter begründete Affinität
der deutschen Kunst zum Wald möchte ich aus dieser Ahnenreihe
von der Romantik bis Göttle aber nicht ableiten. Auch
die Maler von Barbizon (Corot, Thédore Rousseau, Charles-Francois
Daubingny) - um nur einige Beispiele zu nennen - haben einmalige
Baum- und Waldlandschaften gemalt.
Am Schluss kommen wir zur Krönung der Schöpfung,
zum Menschen, genauer: zur Frau - als Aktdarstellung
in Zeichnungen , Gemälden und Monotypien von Stefan-Felix
Göttle. Das Zeichnen, Malen, Modellieren nach dem Aktmodell
gehört heute nicht mehr unbedingt zum Kanon des akademischen
Kunststudiums. Die Kunsthochschule, wo sich heute der Student
in der Klasse eines mehr oder weniger berühmten, häufig
abwesenden Kunstprofessors in der Regel selbst überlassen
bleibt, zog Göttle nicht an - ... . Mit der Darstellung
des menschlichen Körpers setzt er sich - allein oder
in der Gemeinschaft gleichgesinnter Dilettanti - immer wieder
auseinander. Göttles Aktdarstellungen bleiben dabei auch
als Gemälde immer skizzenhaft, was keine abwertende Bedeutung
hat. Das Wort Skizze stammte vom ital. "schizzo",
das die Grundbedeutung von Spritzer, Fleck besitzt, während
das Verb "schizzare" spritzen, flüchtig schildern
und sprühen im Sinne von "esprimere", ausdrücken,
bedeutet. Daraus lassen sich folgende Bedeutungsaspekte für
Skizze als Terminus der bildenden Kunst ableiten: Freier und
unkonventioneller Umgang mit bildnerischen Mitteln, Knappheit
der Darstellung, die zur Vernachlässigung des Details
führt; Unmittelbarkeit und Kraft des Ausdrucks; Skizze
bezeichnet in diesem Sinne eine spezifische Art und Weise
der bildlichen Darstellung. Skizze und ausgeführtes Bild
sind, wie Diderot feststellt, von grundsätzlich verschiedenem
Charakter. In seinen ästhetischen Schriften sagt er:
"In der Literatur wie in der Malerei ist es keine Kleinigkeit,
seine Skizze aufrechtzuerhalten... Das Lässige an einer
Komposition gleicht dem Negligé einer hübschen
Frau - kurz darauf verdirbt das Ankleiden alles." Will
heißen: Wie eine Frau, die sich in ihren privaten Räumen
im Morgenrock bewegt, sich aber sorgfältig und "à
la mode" kleidet, sobald sie sich in Gesellschaft begibt,
gehört die Skizze einer privaten Sphäre an und lässt
die Bildidee in ihrer Ursprünglichkeit und Frische erscheinen,
während das für die Öffentlichkeit bestimmte
Bild nach festen Regeln ausgearbeitet wird und dabei allzu
leicht an Lebendigkeit verliert. Die Skizze ist - nach Diderot
- in weit geringerem Maße Konventionen unterworfen als
ein ausgeführte Bild und bietet daher die Möglichkeit
des freien Experimentierens. Seit dem 19. Jahrhundert, also
nach Diderot, wuchs die Skizze - verbunden mit ihrer Loslösung
von der traditionellen Entwurfsfunktion - verstärkt in
das Endprodukt hinein und ist heute selbstverständlich
ein ausstellungswürdiges Kunstwerk.
Ein wichtiges künstlerisches Anliegen ist für Göttle
bei den Aktzeichnungen die Beziehung zwischen Figur und Raum.
Die Komposition beginnt nicht mit geschlossenen, vom umgebenden
Bildraum isolierten Körperformen, was leicht zu falschen
Proportionen führen würde; Ansätze für
die Komposition sind häufig Durchblicke, z.B. ein Dreieck
zwischen gebeugtem Arm und Rücken. Weiteres will ich
nicht verraten... Wer mehr darüber erfahren will, dem
empfehle ich, sich den Kunstliebhabern um Stephan-Felix Göttle
anzuschließen, die in diesem Jahr zur Hochheimer Kerb
mit ihren Aktskizzen in der Zehntscheuer an die Öffentlichkeit
traten. Ich wünsche Stefan-Felix Göttle weiterhin
ein glückliches Experimentieren und ,dilettare'.
Ihnen - meine Damen und Herren - danke ich für die Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen viel Freude mit den ausgestellten Werken."
Worms im Oktober 2002, Dr. Busso Diekamp
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